Finanzminister Henry Morgenthau Jr. war der Linksaußen im Kabinett von US-Präsident Franklin D. Roosevelt. 1944 legte er intern ein Konzept für einen „harten Frieden“ mit Deutschland vor. Die Experten in Washington und London reagierten entsetzt.
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Bringt ein „harter“ Friede mehr Sicherheit als ein „weicher“ – oder ist es genau umgekehrt? Diese Frage ist so alt wie der Krieg an sich. Denn jeder Kampf endet irgendwann. Kann man dann neue Konflikte besser dadurch vermeiden, dass man dem geschlagenen Gegner möglichst scharfe Strafen auferlegt und so seine ökonomische, also auch militärische Kapazität für möglichst lange Zeit minimiert? Oder ist sinnvoller, den Verlierer gerade nicht klein zu halten, sondern im Gegenteil aufzubauen und eine Kooperation anzustreben?
Im Spätsommer 1944 stritten um diese Frage in Washington D.C. zahlreiche Beamte in verschiedenen Ministerien. Auf der einen Seite standen die Deutschland-Experten des State Department und des Generalstabes; auf der anderen positionierte sich Ende August 1944 das US-Schatzamt mit Henry Morgenthau Jr. an der Spitze, dem Linksaußen des vorwiegend liberalen US-Kabinetts, der aber zugleich ein langjähriger Freund und enger Vertrauter von Präsident Franklin D. Roosevelt war.
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Morgenthau ließ seinen Stab ein Konzept entwerfen, um die Diskussion in der US-Regierung in seinem Sinne zu beeinflussen. Das Papier lag am 4. September 1944 vor, umfasste 14 Abschnitte mit teilweise mehreren Unterpunkten sowie zwei Anhänge, insgesamt neun Seiten; der Titel lautete: „Vorschlag für ein Deutschlandprogramm für die Zeit nach der Kapitulation“. Es ist der ursprüngliche, der eigentliche Morgenthau-Plan.
Der Entwurf hatte es in sich. Allgemein akzeptabel im US-Staatsapparat waren eigentlich nur drei der 14 Paragrafen – die völlig Entmilitarisierung Deutschlands galt ohnehin als selbstverständlich, ebenso die Schließung von Schulen und Medien, bis sie unter Kontrolle der Siegermächte neu eröffnet werden würden, natürlich auch die Bestrafung von Kriegsverbrechern.
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Die meisten anderen Vorschläge aus Morgenthaus Stab widersprachen hingegen direkt den Vorschlägen der Deutschland-Experten des State Department und des Generalstabes. So sollte Ostpreußen Polen zugeschlagen werden, soweit es nicht an die UdSSR ging, ebenso Oberschlesien. Das Saarland und große Teile von Rheinland-Pfalz sollten an Frankreich gehen, Schleswig möglicherweise (es gab auch im Stabe Morgenthaus unterschiedliche Ansichten) an Dänemark.
Das verbleibende Schleswig-Holstein und der Nord-Ostsee-Kanal, Bremen, Niedersachsen, der Niederrhein und das Ruhrgebiet bis einschließlich Frankfurts sollten eine international besetzte Zone bilden. Das restliche Deutschland sollte zweigeteilt werden – Bayern, Baden und Württemberg sollten einen süddeutschen, die Reste von Preußen, Hamburg und die mitteldeutschen Länder einen norddeutschen Staat bilden.
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Im Ruhrgebiet wie im ganzen ehemaligen Deutschland sollten alle verwertbaren Industrieanlagen demontiert und abtransportiert werden; wo das nicht möglich war, wollte Morgenthau sie zerstören lassen. Die Militärregierungen sollten für 20 Jahre die Kontrolle über die verbliebene Wirtschaft übernehmen und sie vorsätzlich behindern; die Politik sollte faktisch auf Regionalverwaltungen zurückgestutzt werden. Es war ein Programm, das weit über die Auflagen des Versailler Vertrages von 1919 hinausging.
Entsprechend fiel die Reaktion der Fachleute im State Department und beim US-Generalstab aus: Morgenthau wolle die Fehler von 1919 nicht nur wiederholen, er wolle sie sogar noch übertreffen, warnten sie. Kriegsminister Henry L. Stimson, alles andere als ein Weichling, forderte: „Wir können das deutsche Problem nur mit christlichem Denken und mit Güte lösen.“
Den Fantasien Morgenthaus hielt er entgegen, das Ruhrgebiet mit seinen Bodenschätzen sei ein „Geschenk der Natur“ und der Mittelpunkt „eines der am stärksten industrialisierten Kontinente der Welt“. Er warnte, die Deutschen seien ein Volk voller Energie, Kraft und Fortschritt“ – möglich sei, dass sie wie schon nach Versailles Wege finden könnten, sich für die vorgeschlagene Demütigung zu revanchieren, sollte sie verwirklicht werden.
Dennoch schien es zunächst, als könnte sich Morgenthau durchsetzen. Jedenfalls fand er Roosevelts Unterstützung. Und weil der Finanzminister klug genug war, Abstriche an seinem ersten, bewusst provokanten Entwurf hinzunehmen, nahm ihn der Präsident zur amerikanisch-britischen Konferenz in Quebec Mitte September 1944 mit.
Hier drängte Roosevelt seinen wichtigsten Verbündeten Winston Churchill, eine etwas entschärfte Fassung des Papiers zu unterzeichnen. Der britische Premier hielt zwar nichts von der Idee, in der Mitte Europas eine industrielle Wüste zu schaffen, aber er brauchte das amerikanische Entgegenkommen in drängenden aktuellen Fragen. Churchill willigte daher ein, „den Plan zu prüfen“, rechnete aber nicht damit, dass er „praktisch durchführbar“ sein würde.
Nicht ganz zufällig kritisierte die „New York Times“ tatsächlich nur sechs Tage später das in Quebec unterzeichnete Memorandum bemerkenswert gut informiert. Das Blatt beschrieb Morgenthau als einen Besessenen, der alles niedermache, was ihm nicht passe; die „Washington Post“ und die „Los Angeles Times“ stimmten ein.
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Roosevelt, der im November 1944 zum dritten Mal wiedergewählt werden wollte, ruderte nach diesen eindeutigen Reaktionen in der Öffentlichkeit umgehend zurück; er distanzierte sich vom Memorandum von Quebec und damit von den Ideen seines Finanzministers. Zu Stimson sagte der bereits schwer kranke Präsident: „Henry Morgenthau hat einen Bock geschossen.“
Das war zwar hochgradig illoyal gegenüber seinem Vertrauten und Freund, aber ein „klassischer Roosevelt“. Angesichts dessen fühlte sich Churchill bestätigt: „Am Ende konnte sich, mit meinem unbedingten Beifall, der Gedanke nicht durchsetzen, Deutschland zu einem Land der Schäfer und Hirten zu machen.“ Morgenthaus radikaler Vorschlag war damit faktisch tot.
Dass er dennoch in vielen Köpfen weiterlebte, lag an Joseph Goebbels. „Roosevelt und Churchill stimmen in Quebec mit dem jüdischen Mordplan überein“, verbreitete das NSDAP-Parteiblatt „Völkischer Beobachter“ Ende September 1944 – zu einer Zeit, als das Memorandum bereits Makulatur war. Den gesamten Oktober 1944 bauschte die NS-Propaganda den längst erledigten Morgenthau-Plan weiter auf, und im Januar 1945 malte sogar Hitler in seiner letzten Neujahrsrede die möglichen Folgen breit aus.
Tatsächlich setzte Morgenthau in den letzten Monaten seiner Zeit als Minister noch durch, dass einige Passagen seiner Vorstellungen in die Weisung JCS-1067 für die Verwaltung des besetzten Deutschlands eingingen. Doch Lucius D. Clay, ab Mai 1945 faktisch der Gouverneur der US-Zone, war entschlossen, einen realistischen Kurs in der Besatzungspolitik einzuschlagen: Er ignorierte die von Henry Morgenthaus Vorstellungen inspirierten Abschnitte seiner Weisung schlicht.
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Dieser Artikel wurde erstmals im September 2021 veröffentlicht.